Verletzlichkeit

Das erste Mal über das Thema Verletzlichkeit gestolpert bin ich in diesem Sommerurlaub. Ich habe mir das Buch «Verletzlichkeit macht stark» von Brené Brown mitgenommen. Das Buch war mir vorher von diversen Seiten empfohlen worden. Wenn ich ehrlich bin, dann dachte ich mir zuerst, wie man den ein ganzes Buch über so ein Thema schreiben kann. Naja, was soll ich sagen, das Buch hat mich so richtig gepackt. Da wir mit dem Fahrrad unterwegs waren und ich jeglichen Ballast loswerden musste, ist das Buch leider in den Niederlanden geblieben. Mit im Gepäck waren aber diverse herausgerissene Seiten, auf denen die wichtigsten Sätze mit Leuchtstift markiert waren.
Das zweite Mal bin ich mit dem Thema «Verletzlichkeit» in meiner Business-Weiterbildung in Berührung gekommen. Dabei musste ich wieder einmal feststellen, dass ich nicht die Einzige war, die mit dem Thema haderte. Ich muss vielleicht erwähnen, dass es sich die Weiterbildung an Frauen richtet, die ihr Business gross machen wollen (Ja, sich nur schon das einzugestehen, macht wiederum verletzlich). Das gerade solche, gegen aussen sehr selbstbewusst wirkende Frauen, ebenfalls Mühe haben, sich verletzlich zu zeigen, hat mich nachdenklich gemacht.
Das dritte Mal hat mich das Thema Verletzlichkeit heute morgen wieder angesprochen. Ich hatte eine Coaching-Session mit einer Kundin, wo es um ihren Kinderwunsch ging. Es stellte sich heraus, dass sie sich nicht getraute, ihre Wünsche mit ihren Freundinnen zu teilen, da sie Angst hatte, wie andere über sie urteilen könnten, insbesondere wenn sie es nicht schaffen würde. Das hat mich so tief berührt, dass heute der Impuls kam über dieses Thema zu schreiben.
„Was dich nicht umbringt, macht dich stärker“ – ein Satz, den viele von uns bereits früh zu hören bekamen und der unsere Lebenseinstellung geprägt hat. Auch ich glaubte lange, dass Verletzlichkeit eine Schwäche sei. Glücklicherweise belehrte mich das Leben eines Besseren. Gerade die letzten zwei Jahre haben mich dahin geführt, dass ich mich mehr und mehr in meiner Verletzlichkeit zeigen durfte. So musste ich mir einerseits eingestehen, dass ich mein Leben nicht mehr so weiterführen kann, wie bisher. Mein bisheriges Leben war geprägt von Stärke, Durchhaltewillen, Disziplin, Kontrolle. Das ich mir damit einen Schutzpanzer aufgebaut hatte, um mich vor negativen Gefühlen zu schützen, war mir damals nicht bewusst. Was ich aber heute weiss: Damals kamen aber auch Kreativität, Freude, Genuss und vor allem Menschlichkeit zu kurz. Aufgrund meiner Zyklusstörungen war ich jedoch gezwungen mich mit mir selbst auseinanderzusetzen.
Meine Geschichte öffentlich zu teilen erfordert immer wieder eine grosse Portion Mut zur Verletzlichkeit. Das fällt mir nicht immer gleich leicht. Natürlich fürchte auch ich die Verurteilung von meinen Mitmenschen. Das «Was denken bloss die Anderen?» betrifft aber auch den gesamten Businessaufbau. Was ist wenn ich scheitere? Was ist, wenn ich damit so richtig auf die Nase fliege?
In einer Welt, in der Versagensangst den meisten Menschen zur zweiten Natur geworden ist, erscheint Verletzlichkeit als gefährlich. Doch das Gegenteil ist der Fall: Brené Brown zeigt, Verletzlichkeit ist die Voraussetzung dafür, dass Liebe, Zugehörigkeit, Freude und Kreativität entstehen können. Unter ihrer behutsamen Anleitung entdecken wir die Kraft, die wir hinter unseren Schutzpanzern verborgen halten, und entwickeln den Mut, uns für das einzusetzen, was uns wirklich etwas bedeutet. Der Klappentext von Brené Browns Buch trifft es auf den Punkt. Wenn wir alle mehr Verletzlichkeit zulassen würden, dann wäre unsere Welt bestimmt eine bessere. Ja, Verletzlichkeit zu zeigen ist nicht einfach und tut oft weh. Aber ganz ehrlich, wer möchte denn von Menschen umgeben sein, die sich nie von ihrer verletzlichen Seite zeigen?
Besonders in Freundschaften und in der Liebe ist es wichtig, sich mutig so zu geben, wie man wirklich ist und fühlt. Nur so entsteht eine wirklich bedeutsame Bindung zwischen uns und den anderen Menschen. Denn emotionale Verletzlichkeit steht am Ursprung der für den Menschen wichtigsten Empfindungen: Liebe und Zugehörigkeit, Freude, Solidarität und Hoffnung.
Verletzlichkeit, die nicht geteilt wird, endet in Scham. Scham lähmt. Wer sich schämt, fühlt sich einfach nur schlecht, wertlos und isoliert. Scham kann man nur vertreiben, indem man sich verletzlich zeigt, sich jemanden anvertraut. Scham hingegen kann nur existieren, wenn man sich allein glaubt und denkt, man sei der Einzige, dem etwas Peinliches passiert ist. Scham überwindet man durch die Verbindung zu anderen Menschen und durch das Wissen, dass jede menschliche Erfahrung geteilt wird. Brown bezeichnet Empathie als das Gegengift von Scham. Wenn wir uns jemanden anvertrauen und derjenige uns eine ähnliche Geschichte erzählt, fällt uns oft ein Stein von Herzen.
Obwohl Verletzlichkeit den weiblichen Werten zugeordnet wird, fällt es Frauen in der heutigen Zeit besonders schwer sich verletzlich zu zeigen. Wir sind bestrebt, alles perfekt zu machen und dabei niemals angestrengt auszusehen. Verletzlichkeit für Frauen bedeutet: Ich kann nicht immer und alles zugleich. Was auf den ersten Blick schwer aussehen mag, bewirkt im zweiten Schritt eine grosse Erleichterung.
Soll ich über meine Zyklus- und Fruchtbarkeitsstörungen reden? Soll ich gestehen, dass ich einen Kinderwunsch habe, der sich bisher noch nicht erfüllt hat? Was denken dann die Anderen? Bin ich dann nicht unter Druck? So wie jede Frau individuell ist, so gibt es hier auch nicht die pauschale Antwort. Meine Erfahrung ist jedoch, dass Verletzlichkeit zwar viel Mut braucht, die Reaktion der Mitmenschen jedoch niemals so schlimm ist wie befürchtet. Im Gegenteil: Oftmals fällt eine tonnenschwere Last von den Schultern, die man lange mit sich herumgetragen hat.
Man muss seine Gedanken und Sorgen nicht immer mit der ganzen Welt teilen, aber sich schon einer einzelnen Freundin anzuvertrauen, kann sehr erleichternd sein. Oder man sucht sich professionelle Hilfe, bei der man einfach mal seine ganze Geschichte loswerden kann ohne Konsequenzen zu befürchten.
Ich hoffe, dieser kurze Text hat auch dir Mut gemacht, dich wieder mehr verletzlich zu zeigen!